Platon: Das Gute als metaphysische Idee

Platon: Das Gute als metaphysische Idee
Platon: Das Gute als metaphysische Idee
 
Platon wurde in einer adligen, wohlhabenden Familie um 428/427 v. Chr. in Athen geboren. Falls sein »VII. Brief« verlässlich ist, wandte sich der junge Mann nach einem frühen politischen Engagement enttäuscht von der Politik ab; andere Quellen berichten von misslungenen literarischen Versuchen des jungen Platon. Mit etwa 20 Jahren stieß er zu Sokrates und dessen Kreis. Sokrates' Eindruck auf Platon war so nachhaltig, dass Platon ihn nach seinem gewaltsamen Tod (399) in den meisten Dialogen als Gesprächsführer dargestellt hat. Den Prozess gegen Sokrates hat er als ein krasses Unrecht geschildert und seine Hinrichtung als einen Justizmord beschrieben. Eine erste Reise Platons nach Unteritalien und Sizilien brachte ihn in Kontakt mit den Pythagoreern sowie mit Dionysios I., dem Tyrannen von Syrakus und mit dessen jungem Schwager Dion. Vielleicht durch das Vorbild der pythagoreischen Philosophengemeinschaft angeregt, gründete er nach dieser Reise in Athen seine berühmte Schule, die Akademie. Zwei weitere Syrakus-Reisen, die der philosophischen Ausbildung des Tyrannen Dionysios II. dienen sollten, endeten als krasse Misserfolge. Dass Platon den Ehrgeiz hatte, aus Syrakus einen philosophischen Idealstaat zu machen, wird oft behauptet, muss aber als unwahrscheinlich gelten. Platon starb 348/347 v. Chr.
 
Platons Werk besteht aus der »Verteidigungsrede des Sokrates« (der »Apologie«), etwa 40 Werken in Dialogform, deren Echtheit teilweise umstritten ist, und einigen - ebenfalls kontrovers bewerteten - Briefen. Eine absolute Chronologie dieser Werke ist nicht zweifelsfrei möglich. Ein grundlegendes Problem verbindet sich mit Platons Kritik an jeder schriftlichen Darlegung im »Phaidros« (275d-e). Platon sagt dort, die Schrift erwecke fälschlich den Eindruck, man könne »Fragen an sie richten«; in Wahrheit sage sie aber stets nur dasselbe. Zudem rede die Schrift undifferenziert zu jedem; sie verstehe nicht, »zu wem sie sprechen soll und zu wem nicht«. Wenn sie beschimpft werde, bedürfe sie immer »der Hilfe ihres Vaters«; die Schrift sei nicht imstande, sich selbst zu schützen oder zu helfen. Die Schwierigkeiten, solche - selbst schriftlichen - Äußerungen zu interpretieren, vergrößern sich noch durch die Feststellungen des »VII. Briefs« (341c-d): Dort sagt Platon (falls der Brief echt ist), dass es von ihm niemals eine Schrift über das geben werde, worum er sich ernsthaft bemühe; diese Sache sei nämlich »nicht sagbar wie andere Lehren«, sondern ergebe sich nur »aus dem Umgang mit der Sache wie Licht, das in der Seele angezündet« werde.
 
Platons frühe Dialoge werden häufig als »Definitionsdialoge« bezeichnet, denn sie entzünden sich immer an einer Frage wie »Was ist Tapferkeit?« (»Laches«), »Was ist Frömmigkeit?« (in »Euthyphron«), »Was ist Besonnenheit?« (»Charmides«) oder »Was ist Tugend?« (»Menon«). Doch ist es problematisch, die platonische Was-ist-X-Frage als bloße Suche nach Definitionen zu verstehen. Denn die Dialoge enden aporetisch: sie bieten keine gültigen Definitionen, enden vielmehr ohne Ergebnis. Zudem besitzt Platon - anders als Aristoteles - keine formale Definitionsmethode, die er erkennbar anwenden würde; im übrigen zeigen die genannten Beispiele, dass es dem frühen Platon hauptsächlich um handlungsleitende, um ethische Begriffe geht. Schließlich, und dies ist am wichtigsten, richtet sich die Was-ist-X-Frage auf das, was eine Sache »an sich« oder »eigentlich« ist; Platon interessiert sich für die hintergründige Begriffsbedeutung jenseits der vielen Einzelfälle. So fragt er etwa, was die Tapferkeit ist, die in den vielen verschiedenen tapferen Handlungen zum Ausdruck kommt und diese ausmacht.
 
Treffender ist es, von »elenktischen« Dialogen zu sprechen, weil sie der Widerlegung oder genauer »Überführung« (elenchos) eines Gesprächspartners dienen. Die immer wiederkehrende Was-ist-X-Frage hat also zunächst einmal das Anliegen, unzureichendes Wissen zu entlarven, ein Wissen, das verbunden ist mit der falschen Selbstsicherheit und dem Standesdünkel von Fachleuten. Insbesondere möchte Platon zeigen, dass man auf die recht verstandene Was-ist-X-Frage überhaupt nicht mit Einzelwissen antworten darf. Seine Suche richtet sich vielmehr auf das gleich bleibende, einheitliche Wesen einer Sache, welches in einer Wesensdefinition bestimmt werden soll (»Eutyphron« 11a, »Menon« 72b).
 
Aus dieser Fragerichtung ergibt sich Platons Ideentheorie. Er unterscheidet die »sichtbare Welt« von einer rein geistigen (»intelligiblen«) oder »Ideenwelt« und deutet die Objekte der ersteren als Ableitungen aus der letzteren. Sinnliche Dinge sind das, was sie sind, durch »Teilhabe« an den Ideen, durch »Gemeinschaft« mit den Ideen oder durch deren »Präsenz« in den Dingen. Die Ideen bilden die »idealen Vorbilder« dessen, was die sinnlichen Gegenstände abgeleiteterweise sind. Mit dieser Theorie ist einerseits, wie bei Heraklit, der »Flusscharakter« der sinnlichen Welt bestätigt, andererseits ist, in Anlehnung an Parmenides, die Konstanz der Denkobjekte gewahrt, ohne dass für sie Starrheit behauptet werden müsste. Platon erkennt der begrifflichen Welt in seinem späteren Werk die Momente Negation, Bewegung und Andersheit zu und untersucht das Wechselverhältnis von Begriffen (im Dialog »Sophistes«).
 
Platon spricht meist von ethischen und mathematischen Ideen wie »dem Schönen«, »dem Tapferen«, »dem Doppelten«, »dem Kreis«, seltener von Naturdingen (Tieren, Pflanzen) oder Artefakten (Tisch, Bett, Weberschiffchen). Aus der »Politeia« wird deutlich, dass Platon alle Ideen einer einzigen untergeordnet hat, die er die »Idee des Guten« nannte. Die untergeordneten Ideen sind, so meint Platon, von der Idee des Guten verursacht (metaphysische Bedeutung), die Ideen erhalten ihren Wert von der Idee des Guten (axiologische Bedeutung), zudem ist die Idee des Guten die grundsätzliche Bedingung für die Erkenntnis aller Ideen (epistemologische Bedeutung). Es sind insbesondere die drei berühmten platonischen Gleichnisse, das Sonnen-, das Linien- und das Höhlengleichnis, in denen von den Ideen und ihrem Verhältnis zur Idee des Guten gesprochen wird.
 
Eine zentrale Streitfrage in der Platonforschung besteht darin, welchen Stellenwert man einer Reihe von antiken Zeugnissen zu einer »Ungeschriebenen Lehre« beimessen soll; denn der Inhalt dieser Zeugnisse unterscheidet sich scheinbar von dem, was man an philosophischen Konzeptionen in den Dialogen findet.Nach diesen Zeugnissen vertrat Platon eine Lehre von zwei obersten Prinzipien. Er soll sie »das Eine« und »die unbestimmte Zwei« genannt haben. Das Eine ist als Prinzip von Form, Bestimmtheit, Identität und Schönheit zu verstehen; es ist der unbestimmten Zwei übergeordnet, die als das Prinzip von Formlosigkeit, Unendlichkeit, Andersheit und Hässlichkeit aufzufassen ist. Auch eine ethische Bedeutung der beiden Prinzipien als gut und schlecht ist bezeugt.
 
Die Befürworter einer ungeschriebenen Lehre glauben aber nicht, Platons Prinzipientheorie sei Bestandteil einer Geheimhaltungspraxis gewesen, wie es sie in den griechischen Mysterien oder bei den Pythagoreern gab. Sie behaupten vielmehr, Platon habe sein Wissen gegenüber allen unverständigen Hörern und Lesern zurückgehalten und dieses Wissen nach Maßgabe des Fassungsvermögens und des Bildungsstandes eines Gesprächspartners mündlich dargelegt. Mit dieser Auffassung erhielte sowohl die bereits erwähnte Schriftkritik als auch die Dialogform, in der Platon schrieb, einen annehmbaren Sinn.
 
In Platons Ethik gibt es keine pointierte Unterscheidung zwischen einem Handeln aus Eigeninteresse und einem Handeln aus moralischer Pflicht, ein begrifflicher Gegensatz, der für die moderne Ethik, etwa für Kant, grundlegend ist. Die Frage, wie man sein Leben führen soll, schließt vielmehr den Aspekt des eigenen Vorteils ebenso wie den Gedanken sozialer Verantwortung ein. Platon meint, dass sich die beiden Aspekte in der Suche nach den Tugenden treffen. Er behält die sokratische Überzeugung bei, Tugend sei Wissen, und zwar ein praktisches Wissen nach dem Muster eines Handwerks (»techne«). Jedoch problematisiert er die Vereinbarkeit der unterschiedlichen Tugenden, indem er sich die Frage vorlegt, ob es nicht im konkreten Fall zu internen Konflikte kommen könne, beispielsweise zwischen Tapferkeit und Besonnenheit (so im Dialog »Protagoras«). In der »Politeia« führt Platon daher die zentralen Tugenden Besonnenheit, Tapferkeit und Weisheit in der übergeordneten Tugend Gerechtigkeit zusammen. Er deutet zudem an, dass der Gerechtigkeit das Wissen um das Gute noch übergeordnet ist; das Gute ist der höchste Wissensgegenstand und als solcher auch maßgeblich für eine ethische Haltung.
 
Die politische Philosophie Platons scheint in dem Hauptwerk »Politeia« dargelegt zu sein. Bei näherem Hinsehen erweist sich diese zunächst plausible Vermutung jedoch als problematisch. Denn Platon verwendet den in der »Politeia« entworfenen Staat ausdrücklich nur als Modell, anhand dessen er die Frage klären will, was es für den einzelnen Menschen heißt, gerecht zu sein, und welche Folgen individuelle Gerechtigkeit hat. Die Bedingung, unter der der hier entworfene Staat realisierbar sein soll, wird ebenso ausdrücklich genannt: es ist überraschenderweise die Herrschaft der Philosophen. Platon hat angenommen, dass sein Idealstaat dann, aber auch nur dann, praktikabel sei, wenn ein in seinem Sinn ausgebildeter und überdies charakterfester Philosoph die politische Macht innehätte; freilich meint Platon, es bedürfe dazu schon einer »göttlichen Gnade«. Platon beschreibt einen dreigeteilten Ständestaat, in dem die Philosophen ohne feste Gesetze aufgrund ihrer tiefreichenden Einsicht herrschen, der von »Wächtern« nach innen und außen geschützt wird und dessen untere Klasse Bauern, Händler und Handwerker bilden. Dass in diesem Idealstaat persönlicher Besitz für die Führungsschicht so gut wie aufgehoben ist, dass Frauen in den Spitzenfunktionen den Männern gleichgestellt und dass alle Kinder gemeinsam erzogen werden, zudem eine rigide Selektion von Begabungen und ebenso eine staatlich gelenkte Familienplanung vorgesehen sind, diese Faktoren erhöhen - wie Platon durchaus weiß - die Realitätsferne seines Staates ganz beträchtlich.
 
Es ist daher nicht überraschend, dass Platon in den späten Dialogen »Politikos« und »Nomoi« noch einmal eine politische Philosophie entwickelt.Platon konzentriert sich nunmehr auf den Begriff des Gesetzes und vertritt auf seiner Basis eine klare Rangordnung politischer Verfassungen; dabei stellt er jeweils eine gelungene Staatsform und deren Entartung gegenüber (Monarchie - Tyrannis; Aristokratie - Oligarchie; gesetzliche Demokratie - gesetzlose Demokratie). Dabei sieht er die gesetzesorientierte Alleinherrschaft, also die Monarchie, als die relativ beste Staatsform an.
 
Dr. Christoph Horn
 
 
Graeser, Andreas: Sophistik und Sokratik, Plato und Aristoteles. München 21993.
 Ricken, Friedo: Philosophie der Antike. Stuttgart u. a. 21993.

Universal-Lexikon. 2012.

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